In diesem Artikel möchte ich ein paar Gedanken zum freien Gehen mit euch teilen. Dieser Meilenstein ist für die Eltern und Großeltern zweifelsohne von großer Bedeutung und wird oft sehnsüchtig erwartet! Leserinnen und Leser, die sich bereits mit der autonomen Bewegungsentwicklung nach Pikler beschäftigt haben, wissen natürlich, wie wertvoll es für die kindliche Entwicklung ist, wenn es den Heranwachsenden ermöglicht wird, sich die Positionen und Bewegungen von der Rückenlage bis zum freien Gehen selbständig zu erarbeiten. Jedes gesunde, reif geborene Kind hat das Programm der motorischen Entwicklung in sich verankert und macht bzw. übt den nächsten Schritt, wenn es selbst dazu bereit ist. Wir wissen, dass es nicht notwendig ist, mit dem Baby zu üben. Es reicht aus, für geeignete Rahmenbedingungen zu sorgen: zweckmäßige Kleidung, einen sicheren Platz am Boden und viel ungestörte Zeit. Die Bewegungselemente von Pikler und Hengstenberg bieten Anreize, Neues auszuprobieren und zu üben. Entwicklungstabellen geben einen Rahmen vor, in dem sich das Kind entwickeln soll. Das freie Gehen wird oft bereits um den ersten Geburtstag erwartet. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass im Österreichischen Mutter-Kind-Pass das freie Gehen bereits ab 12 Monaten angegeben wird, und auch das Gehen mit Hilfe findet einen eigenen Eintrag. Jedoch ist nicht angegeben, bis wann das Kind spätestens frei Gehen sollte, und welche Zeitspanne hier eine gesunde Entwicklung bedeutet. Dies kann zu Unsicherheiten bei den Eltern führen. Wenn das Kleinkind mit 16 Monaten noch nicht frei geht, wächst die Ungeduld. Aus der Forschung von Emmi Pikler wissen wir, dass sich manche Kinder bis zum 21. Monat Zeit lassen mit den ersten Schritten (siehe Entwicklungsbogen*), und dass dies ebenso eine gesunde Entwicklung ist! Um mögliche Risiken auszuschalten, empfehlen Physiotherpeut:innen eine Abklärung, wenn das Kind mit 18 Monaten noch nicht frei geht.
Ambitionen, das Gehen lernen mit Hilfsmitteln wie Laufwagerl (auch Gehfrei oder Babywalker genannt) zu beschleunigen, sind nicht sinnvoll, weil das Kind sich falsche Bewegungsmuster einlernt. Leider sind sie noch immer sehr weit verbreitet und werden auch von Stars wie Paris Hilton verwendet, die eifrig Videos ihrer Kinder damit teilt. Das Gleiche gilt für das Gehen an der Hand. Um frei gehen zu können, muss das Kind sein Gleichgewicht durch die muskuläre Stabilisation seiner Füße, Beine und seines Rumpfes halten können. Beim geführten Gehen ist kaum Rumpfstabilität und Gleichgewichtsgefühl notwendig. Kinder finden oft durchaus Freude am Gehen an der Hand, doch um diese Freude zu erreichen, sind sie immer auf die Hilfe des Erwachsenen angewiesen. Schon mehrmals habe ich beobachtet, dass Kinder hartnäckig das Gehen an der Hand einforderten, sobald sie es kennengelernt haben, und das Krabbeln ablehnten. Mittlerweile ist es auch umstritten, Kindern Wagerl oder Gegenstände zum Schieben anzubieten, da sich die Kinder dadurch ebenfalls falsche Bewegungsmuster anlernen. Da das Krabbeln nachweislich sehr gesund ist, sollte es auf jeden Fall gefördert werden, indem man den Kindern viel Zeit und Platz am Boden anbietet! Zusätzlich bieten Krabbelkisten aus Holz auf die die Kinder hinauf, hinunter oder hineinkrabbeln können wertvolle Übungsmöglichkeiten!
In guter Erinnerung ist mir ein Mädchen, dass mit ca. 18 Monaten mit dem Gehen begonnen hat. Noch unsicher und wackelig machte es seine ersten Versuche. Die Mutter freute sich sehr darüber und lobte das Kind verständlicherweise. Kinder möchten ja eigentlich immer die Erwartungen ihrer Bezugspersonen erfüllen, so konnte ich auch bei diesem Mädchen beobachten, dass sie sich bemühte, häufig auf zwei Beinen zu gehen, obwohl es noch sehr anstrengend für sie war. Ich teilte meine Beobachtungen mit der Mutter und sie erkannte das Dilemma ihrer Tochter und hörte auf, sie zu loben. In den nächsten Wochen hörte das Kind fast ganz auf zu gehen und war wieder sicher krabbelnd unterwegs. Erst einige Zeit später fing sie wieder von sich aus mit dem Gehen an.
* Der Entwicklungbogen wurde von der Kinderärztin Judit Falk am Pikler-Institut in Budapest entwickelt.